Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte im digitalen Zeitalter

Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte im digitalen Zeitalter

Organisatoren
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.02.2008 - 08.02.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Riccardo Pozzo, Marco Sgarbi, Università di Verona

Die Abschlussveranstaltung eines vom italienischen Ministero dell’Università e della ricerca scientifica e tecnologica, den Universitäten von Florenz, Padua und Verona sowie von der Herzog August Bibliothek geförderten Projekts über die Perspektiven der Begriffsgeschichte im 21. Jahrhundert hatte das Ziel, italienischen Philosophiehistorikern die Gelegenheit zum Gespräch mit deutschen und nordamerikanischen Kollegen über Möglichkeiten und Grenzen der neuen Technologien für die Begriffsgeschichte zu geben.

Die Teilnehmer wurden von HELWIG SCHMIDT-GLINTZER (HAB, Wolfenbüttel) begrüßt, der Desiderata bezüglich der Begriffsgeschichte darstellte. Eingeführt wurde die Tagung von RICCARDO POZZO (Università di Verona). Er erinnerte daran, dass man heute von einer philosophischen Enzyklopädie kaum mehr eine Systematisierung des philosophischen Wissens einer Epoche erwarten kann — eine solche wurde zum Beispiel noch von Hegel vorgelegt. Deshalb ist es umso verwunderlicher, dass die zwei jüngsten Vorhaben in diese Richtung, nämlich die Routledge Enyclopedia of Philosophy (1988) sowie die dritte Ausgabe der Enciclopedia filosofica del Centro di Ricerche filosofiche di Gallarate (2006), darauf ausgerichtet sind, in einigen Tausend Artikeln Autoren und Konzepte vorzustellen, und zwar im Verhältnis von sieben zu drei. Zu seinem ganz großen Verdienst hat der Schwabe Verlag die Unhaltbarkeit eines solchen Konzepts bewiesen. Denn eine an den Grenzen von noch zu erschließenden Gebieten stehende Philosophiegeschichte ist nur unter der Voraussetzung einer vollendeten Komplementarität zwischen der Rekonstruktion der Lebensgeschichte einzelner Philosophen in dessen regionalen und institutionellen Kontexten, die in Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie vorgelegt wird, und der Rekonstruktion der Geschichte einzelner Begriffe, die im Historischen Wörterbuch der Philosophie vorgelegt wurde. Darüber hinaus wurde die Begriffsgeschichte als Fach innerhalb eines von dem Guardini-Stiftung zusammengebrachten Netzwerks kooperierender Universitäten vorangetriebenen Projekt eines Studium generale für die Einbeziehung allgemeinbildender Elemente in fachbezogene Curricula eingegliedert, das für ihre Entwicklung im europäischen Lehrbetrieb vielversprechend ist. Schließlich wurde die Metapher, dass die Begriffsgeschichte als ‚Brücke’ zwischen den einzelnen Disziplinen dienen könnte, immer wieder mit Fakten untermauert.

In seinem Vortrag „Was ist eigentlich ein Begriff, und wie kann er eine Geschichte haben?“ vertrat LUTZ GELDSETZER (Universität Düsseldorf) den Gesichtspunkt des Logikers und stellte die logische Struktur eines Begriffs unter besonderer Berücksichtigung ihrer Wandelbarkeit dar. Ebenfalls an der Grenze zwischen Logik und Geschichte, erzählte OTTO GERHARD OEXLE (MPI, Göttingen) die Vorgeschichte der Auseinandersetzung über das angespannte Verhältnis von Begriffs- und Problemgeschichte mit Bezug auf Max Weber und die Davoser Gespräche von Ernst Cassirer und Martin Heidegger im Jahr 1929. Die von Otto Gerhard Oexle herausgegebene Rekonstruktion des Problems der Problemgeschichte in den Jahrzehnten von 1880 bis 1932 (2000) hat gezeigt, dass man heute die Problemgeschichte nicht mehr als die Geschichte abstrakter und unabhängiger Denkrelationen ansehen sollte. HANS ERICH BÖDEKER (MPI, Göttingen/Berlin) sprach über ‚Kontext’ bei Quentin Skinner und erklärte, wie das von Reinhardt Koselleck augestellte Paradigma für die Geschichtlichen Grundbegriffe heutzutage fortegesetzt werden kann. MARCO SGARBI (Università di Verona) hielt ein Plädoyer für die Problemgeschichte in Gestalt ihrer vehementen Verteidigung gegen den Vorwurf, sie beschränke sich auf eine aus ewigen Problemstellungen bestehende platonische Welt. Die Begriffsgeschichte solle eine Verflechtung mit der Wort- und der Problemgeschichte anstreben. Der Gegenstand der Begriffsgeschichte bestehe nicht darin, den bloßen begrifflichen Bedeutungswandel, sondern gerade auch die Kongruenz zwischen Begriff und Geschichte durch das Aufspüren von Identitäten und Differenzen in der Wortgeschichte zu rekonstruieren. Deshalb sei auf die Aufgabe hinzuweisen, über die Wechselwirkung zwischen Begriffs- und Problemgeschichte nachzudenken.

Unter der Moderation von MARGARITA KRANZ (HWPh, Berlin) nahm das Arbeitsgespräch seinen weiteren Verlauf. Zunächst zeichnete ULRICH JOHANNES SCHNEIDER (Universitätsbibliothek Leipzig) ein etwas trostloses Bild der Wechselwirkungen von Intellectual History und Philosophiegeschichte. Auch wenn die philosophische Begriffsgeschichte einen großen Teil der 700 Artikel des von Maryanne Horowitz herausgegebenen New Dictionary of the History of Ideas (2004) ausmacht, seien Philosophiegeschichte und Intellectual History dennoch nicht identisch, machten DONALD R. KELLEY und Ulrich Johannes Schneider klar. Das ‚intelligible’ Feld sei Sprache, und die Philosophiegeschichte mache nur einen Teil der intellektuellen Geschichte aus. Das wissenschaftliche Paradigma des Historischen Wörterbuchs der Philosophie sei, so Schneider, inzwischen völlig obsolet geworden. Das einundzwanzigste Jahrhundert brauche einen ganz neuen Ansatz, und es gehöre zu den Aufgaben der Bibliothekwissenschaftler, den Begriffshistorikern zur Seite zu stehen.

„From Punchcards to Digital Archives: Forty Years of ILIESI“, so betitelte HANSMICHAEL HOHENEGGER (ILIESI, Rom) seine Rekonstruktion des ideengeschichtlichen Ansatz des Lessico Intellettuale Europeo von seiner Gründung im Jahr 1964 bis jetzt. ULRICH DIERSE (Ruhr-Universität Bochum) gab einen abschließenden Rundblick über die ebenso lange Geschichte des Historischen Wörterbuchs der Philosophie und sprach über „Ideengeschichte – Begriffsgeschichte – Metapherngeschichte“. Den aktuellen Forschungsstand vom Standpunkt des Journal of the History of Ideas aus wurde von MARTIN BURKE (CUNY, New York) mit Rücksicht auf die in den USA entwickelten EDV-Infrastrukturen präsentiert. Der integrierte Hypertext der Philosophie „NetPhilo“ wurde von SILVIA MAZZINI (Università Cattolica, Mailand) vorgestellt. DAGMAR VON WILLE (ILIESI, Rom) zeigte an Giordano Bruno als Beispiel, wie man ein autoriales Lexikon auf dem Netzwerk „Discovery on-line“ aufstellen kann. DELFINA GIOVANNOZZI (ILIESI, Rom) stellte das ILIESI-Projekt „Lessici filosofici dell’età moderna“ dar. Auch ANN MOYER (University of Philadelphia) sprach über Ideengeschichte und Intellectual History in der Renaissanceforschung. In Gegensatz zum philosophiehistorischen Ansatz ihrer Vorgängerinnen vertrat sie aber den Gesichtspunkt des Historikers und sprach über das Vorhandensein von Quellenmaterialien. Beiträge zur Einbettung der Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte innerhalb eines Studium generale wurden von CARSTEN DUTT (Universität Heidelberg), „Begriffsgeschichte als Instrument für die Literaturwissenschaft“, FRANCO VOLPI (Università di Padova), „Neues Gesicht der praktischen Philosophie durch die Begriffsgeschichte“ und COSTANTINO ESPOSITO (Università di Bari), „Quaestio: Die Metaphysik in begriffs- und problemgeschichtlicher Hinsicht“ geliefert, während MARCO LAMANNA (Università di Bari) über seine Ergebnisse bei der Erschließung der Urgeschichte des Ontologiebegriffs informierte.

Beschlossen wurde das Arbeitsgespräch von Riccardo Pozzo, der auf die Notwendigkeit verwies, das Risiko zu vermeiden, die Begriffsgeschichte zu einem relativierenden Historismus verkommen zu lassen, der die systematische Seite der Begrifflichkeit zugunsten der natürlichen Zeitgebundenheit von Begriffen und ihres definitorischen Eingebettetseins in den historischen Horizonts verleugne und sich dadurch zu Doxoskopie reduziere. Dies wäre in der Tat für das globale Publikum von Studenten und Wissenschaftlern unzumutbar. Die Begriffsgeschichte weise vor allem die historische Einengung von Begriffsbestimmungen entschieden zurück. Die Aufhellung der geschichtlichen Wirksamkeit mache Begriffe für die philosophische Reflexion brauchbar und schaffe den genügend begründeten Rückhalt für ihre stringente Anwendung.

Abschließend wurde das von den Tagungsteilnehmern erarbeitete Projekt „Languages of Europe“ in der englischen Originalzusammenfassung präsentiert. Dieses Projekt hat sich das Ziel gesetzt, der allgemeinen Öffentlichkeit die Grundlagentexte des europäischen kulturellen Bewusstseins als kritische Editionen zur Verfügung zu stellen, indem die digitale Erschließung auch lateinischer und griechischer Quellen in Philosophie und Geschichte gefördert wird. Diese Texte sollen in alle größeren europäischen Sprachen übersetzt werden. „On the basis of forty-years of ILIESI computational philology know-how and of the NetPhilo algorithm and search engine, the LOE aims to produce (1) files, indices and access of textual contents in digital size, (2) bibliographic and lexicographic databases, (3) a repository of primary and secondary sources constituting the ideal multilingual library that has brought about the awareness of Europe’s unity in diversity. Dieses Projekt soll auch die Zusammenarbeit zwischen Universitäten, der Informationstechnologie und Verlagen verbessern. Das Projektprogramm beinhaltet weitreichende Ziele: „Due to its goal of serving as Europe’s reference infrastructure for philosophy and the human sciences, LOE will be flexible and dynamic, transnational and transdisciplinary. As an academia-refereed integrated hypertext, the LOE is the contrary of all Wikipedia-like endeavors. It is oriented towards excellence, the orchestration of heterogeneous and dynamic resources distributed across multiple platforms into a single entity, the fast and massive diffusion of ideas and information, the management of the digital content, the strengthening of cooperation between humanities researchers around the world, the development of new models for digital publishing, and last but not least towards the optimization of research costs.“1

Zum Wiedersehen lädt im nächsten Jahr die International Society of Intellectual History wieder ein, und zwar anlässlich ihres 9. Kongresses, „Translatio Studiorum: Ancient. Medieval, and Modern Bearers of Intellectual History,“ der an der Università di Verona vom 25. bis zum 27. Mai 2009 stattfinden wird.

Kurzübersicht:

Donnerstag, 7. Februar 2008

9.00 Helwig Schmidt-Glintzer (Herzog August Bibliothek, Wölfenbuttel) - Wilkommengruß

9.15 Riccardo Pozzo (Università di Verona) – Einleitung

Beiträge zur Methode der Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte

9.30 Lutz Geldesetzer (Universität Düsseldorf) – „Was ist eigentlich ein Begriff, und wie kann er eine Geschichte haben?“

10.00 Otto Gerhard Oexle (Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen) – „Das Problem der Problemgeschichte“

10.30 Kaffeepause

10.45 Hans-Erich Bödeker (Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen) – „Kontext bei Quentin Skinner“
11.15 Marco Sgarbi (Università di Verona) – „Ein Plädoyer für die Problemgeschichte“

11.45 Diskussion

12.30 Mittagspause

Beiträge zur englischsprachigen Nomenklatur

15.00 Ulrich Johannes Schneider (Universitätsbibliothek Leipzig) – „Wechselwirkungen von Intellectual History und Philosophiegeschichte“
15.30 Hansmichael Hohenegger (Istituto per il Lessico Intellettale Europeo e Storia delle Idee, Rom) – „From Punchcards to Digital Archives: Forty Years of ILIESI“

16.00 Kaffeepause

16.15 Ulrich Dierse (Ruhr-Universität-Bochum) – „Ideengeschichte – Begriffsgeschichte – Metapherngeschichte. Einige Bemerkungen zur aktuellen Diskussion“
16.45 Martin J. Burke (City University of New York) – „ Conceptual History in the United States”

17.15 Diskussion

Freitag, 8. Februar 2008

Beiträge zu Möglichkeiten und Grenzen von Hypertexten

9.30 Silvia Mazzantini (Università Cattolica del Sacro Cuore, Milano) – „Das NetPhilo: Integrierter Hypertext der Philosophie”
10.00 Dagmar von Wille (Istituto per il Lessico Intellettale Europeo e Storia delle Idee, Rom) – „Giordano Bruno in Discovery on-line“

10.30 Kaffeepause

10.45 Delfina Giovannozzi (Istituto per il Lessico Intellettale Europeo e Storia delle Idee, Rom) – „Philosophical Lexica of the Modern Age“

11.15 Ann E. Moyer (University of Pennsylvania, Philadelphia) – „Renaissance Sources for Intellectual History“

11.45 Diskussion

12.30 Mittagspause

Beiträge zur Einbettung der Begriffs-, Problem- und Ideengeschichte innerhalb eines Studium generale

15.00 Carsten Dutt (Universität Heidelberg) – „Begriffsgeschichte als Instrument für die Literaturwissenschaft“
15.30 Franco Volpi (Università di Padova) – „Neues Gesicht der praktischen Philosophie durch die Begriffsgeschichte“

16.00 Kaffeepause

16.15 Costantino Esposito (Università di Bari) – „Quaestio: Die Metaphysik in begriffs- und problemgeschichtlicher Hinsicht“
16.45 Marco Lamanna (Università di Bari – „Zur Urgeschichte des Ontologiebegriffs“
17:15 Riccardo Pozzo (Università di Verona) – „Das Studium generale als Einleitung in die Geisteswissenschaften“

17.45 Diskussion

Anmerkung:
1 Vgl. <http://www.iliesi.cnr.it>.